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Hannelore Marzi erzählt Feintechnikschülern unbekannte Märchen der Brüder Grimm
Jedes Jahr finden im Oktober die Fredericks-Wochen statt. Diese Aktion soll das Interesse von Jugendlichen an Literatur anregen und wird vom Esslinger Friedrich-Bödecker-Kreis maßgeblich organisiert und finanziert. Volker Fritz, der Leiter der Stadtbibliothek Villingen-Schwenningen stellte wie in den vergangenen Jahren einen Raum zur Verfügung.
Dieses Jahr kam die Frankfurter Märchenerzählerin Hannelore Marzi in die Schwenninger Stadtbibliothek, um Schülern der Feintechnikschule Märchen der Brüder Grimm zu erzählen. Allerdings nicht in den bekannten Versionen der siebten und letzten Auflage der „Kinder- und Hausmärchen“ von 1857, sondern in den Fassungen der ersten Auflage von 1812. In „Rapunzel“ etwa fiel eine dezente Anspielung auf die Schwangerschaft der Titelheldin – „das Leibchen wird mir so enge“ – in den späteren Fassungen der im 18. Jahrhundert üblichen Prüderie zum Opfer; Rapunzel wundert sich nunmehr nur noch, warum es ihr so schwer fällt, die Hexe an ihren Haaren hochzuziehen.
Hannelore Marzi erläuterte nicht nur die Textgeschichte der Märchen, sondern auch ihre Erzählweise. Die Märchen der Brüder Grimm sind für sie „Gesetz“; sie will sie wortwörtlich erzählen und nichts verändern. Andere Märchen erzählt sie freier und passt sie den Zuhörern und der Situation an.
Auch in Schwenningen reagierte Hannelore Marzi spontan. So veränderte sie aufgrund einer Frage den Programmablauf. Die Frage lautete: „Was ist Ihr Lieblingsmärchen?“ Sie erklärte, es seien immer mehrere und es wechsele. Es seien nicht nur Grimmsche Märchen, sondern auch viele orientalische. Etwa Märchen aus „Tausendundeine Nacht“, aber auch Märchen, die der Engländer C. G. Campbell gesammelt hat. Er war Soldat und ging in seiner Freizeit auf die Wildjagd und schließlich auch auf „Märchenjagd“. Hannelore Marzi dagegen kam zu den Märchen durch das Übersetzen. Meist übersetzte sie orientalische Frauenmärchen. Dabei zieht sie stets einen Muttersprachler hinzu, der ihr den Text wortwörtlich übersetzt. Danach schreibt sie ihn in eine sprachlich stimmige Fassung um, die sie noch einmal mit dem Muttersprachler diskutiert. Dieser beurteilt, ob das Märchen noch nah genug am Original ist.
Ihre Ausführungen illustrierte sie mit dem orientalischen Märchen „Der Wächter am Brunnen“. Zur Freude ihres Publikums ging es dabei auch weniger prüde zu als bei den Grimms. Recht ausführlich wurde am Knoten der Pluderhose des Mädchens genestelt… Doch sie lässt den dreisten Wächter nicht weiter an sich heran und „ward nie wieder gesehen“.
Dies kann man hoffentlich von Hannelore Marzi nicht sagen, sondern ihre Schwenninger Zuhörer dürften alle hoffen – wie der Applaus deutlich machte –, sie recht bald wiederzusehen.
(Den Artikel verfassten Sebastian Acerbi und Andreas Güntert, Klasse 12 des Technischen Gymnasiums.)